Neue Richtlinie aus Brüssel: Transparenz kann Belastung werden
Die neue EU-Richtlinie zur Lohntransparenz soll gleiche Bezahlung fördern – doch sie bringt vor allem neue Bürokratie.
Fachleute warnen, dass der Mittelstand unter der Last der Vorschriften ächzt und der Kulturwandel ausbleibt.

Die Runde (v. l. n. r.): Markus Bettecken (Haver & Mailänder) , Gunnar Müller-Henneberg (Luther Rechtsanwaltsgesellschaft) , Dr. Alexander Sommer (Kullen, Müller, Zinser), Annika Grah (Stuttgarter Zeitung, Stuttgarter Nachrichten), Ngoc Anh Heimbach (RSM Ebner Stolz), Simon Beier (Burger, Rosenbauer, Beier), Christian Raiser (Thümmel Schütze), Tiemo Kobera (SWM.N) und Matthias Schiermeyer (Stuttgarter Zeitung; Stuttgarter Nachrichten) Foto: Lichtgut/Leif Piechowski
Wie viel Offenheit verträgt der Arbeitsmarkt? Und wie lässt sich Lohngerechtigkeit schaffen, ohne Unternehmen mit Bürokratie zu überlasten? Diese Fragen standen im Mittelpunkt eines Round Table von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten, moderiert von Annika Grah
und Matthias Schiermeyer.
Das Entgelttransparenzgesetz gilt seit 2017. Es sollte Beschäftigten helfen, ungleiche Bezahlung aufzudecken. Sechs Jahre später fällt die Bilanz nüchtern aus. „Das Gesetz hat in puncto Gleichberechtigung nichts gebracht“, sagte Gunnar Müller-Henneberg (Luther Rechtsanwaltsgesellschaft). Die Regelung habe kaum praktische Wirkung entfaltet. „Gleichberechtigung und Gleichstellung werden oft verwechselt – das eine garantiert gleiche Rechte, das andere will gleiche Ergebnisse.“
Auch Dr. Alexander Sommer (Kullen, Müller, Zinser) sieht wenig Nutzen. Das Gesetz sei ein Beispiel für übermäßige Regulierungsfreude. „Es verursacht hohen Aufwand, ohne die Lohnlücke zu schließen. Die Sensibilität für faire Bezahlung ist längst da – unabhängig vom Gesetzgeber.“
Ähnlich urteilt Markus Bettecken (Haver & Mailänder): „Die Bürokratie wächst, aber die Gerechtigkeit nicht. Vertrauen lässt sich nicht per Formular herstellen.“
Mit der neuen EU-Richtlinie zur Lohntransparenz, die bis 2026 umgesetzt werden muss, verschärfen sich die Anforderungen.
Arbeitgeber sollen künftig Gehaltsspannen offenlegen und regelmäßig über geschlechtsbezogene Unterschiede berichten.
Für viele Mittelständler wird das zur Belastung. „Große Konzerne haben Compliance-Strukturen, aber kleinere Betriebe stehen vor
einem Kraftakt“, sagt Ngoc Anh Heimbach (RSM Ebner Stolz). „Schon die Bestandsaufnahme, wer was verdient und warum, kostet
enorme Zeit und Energie.“
Und Christian Raiser (Thümmel Schütze) warnt: „Die Richtlinie gilt unabhängig von der Unternehmensgröße. Damit wird der bürokratische Aufwand für alle verpflichtend. Was im Konzern eine Abteilung übernimmt, muss der Mittelständler neben dem Tagesgeschäft stemmen.“ Sommer ergänzt: „Der politische Wunsch nach Bürokratieabbau steht in klarem Widerspruch zu dem, was die
EU tatsächlich beschließt.“
Zugleich entstehen neue juristische Risiken. „Bevor Unternehmen Transparenz schaffen können, müssen sie sensible Daten sammeln“, erklärt Simon Beier (Burger, Rosenbauer, Beier). „Das kann leicht mit dem Datenschutz kollidieren. Eine statistische Abweichung ist noch keine Diskriminierung, wird aber oft so gelesen.“ Bettecken ergänzt, er sieht die Beweislast zunehmend
bei den Arbeitgebern. „Das erhöht die Unsicherheit und die Zahl der Streitfälle.“ Müller-Henneberg verweist zudem auf die Missbrauchsgefahr: „Wir erleben Klagen, die weniger Gleichbehandlung als Abfindung zum Ziel haben.“ Raiser bestätigt das aus seiner Praxis: „Das Entgelttransparenzgesetz wird so zum taktischen Instrument. Für Fairness sorgt es kaum.“
Heimbach betont, dass viele Unternehmen schlicht überfordert sind. „Gerade kleinere Betriebe wissen nicht, wo sie anfangen sollen. Die Unsicherheit lähmt.“ Sommer erkennt darin ein strukturelles Problem: „Große Unternehmen können Pflichten auslagern, kleine müssen sie mit denselben Standards
erfüllen – das ist unverhältnismäßig.“
Trotz der kritischen Analyse herrscht Einigkeit, dass Transparenz ein wichtiges Ziel bleibt. „Geld ist in vielen Firmen noch immer ein Tabuthema“, urteilt Müller-Henneberg. „Wer Gleichbehandlung will, muss über Gehälter reden
dürfen.“ Doch Heimbach sieht darin auch Chancen: „Eine transparente Vergütung stärkt Vertrauen und hilft bei der Fachkräftebindung.“
Worauf Sommer ergänzt: „Offene Strukturen fördern Glaubwürdigkeit und moderne Unternehmenskultur.“ Die Replilk von Beier hierzu:
„Nicht jeder Unterschied ist Diskriminierung. Frauen und Männer verhandeln oft unterschiedlich – das darf man nicht rechtlich sanktionieren.“ Bettecken fordert dabei Augenmaß: „Regelungen zur Entgeltgleichheit müssen umsetzbar bleiben. Je komplexer
das System, desto größer die Gefahr, dass die Idee von fairer Bezahlung verloren geht.“
Am Ende war sich die Runde einig: Die
neue EU-Richtlinie schärft das Bewusstsein für gerechte Bezahlung, löst aber nicht die Grundprobleme vieler Unternehmen.
Ohne Netz und doppelten Boden
Round Table Teil II: Steigende Zinsen, schwache Nachfrage, hohe Kosten: Der Mittelstand gerät unter Druck.
Wie beurteilen Experten die Krise – und welche Chancen bieten sich aktuell?
Keine Frage: Die deutsche Wirtschaft steht an einem Wendepunkt. Nach Jahren des Wachstums und staatlicher Stabilisierung ist die Realität zurück: steigende Zinsen, geopolitische Unsicherheit und die Folgen einer „gedopten Wirtschaft“, wie es Gunnar Müller-Henneberg (Luther Rechtsanwaltsgesellschaft) nennt. Im zweiten Teil des Round Table der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten, diskutierten namhafte Juristen und Sanierungsexperten über Ursachen und Chancen der neuen Krisenphase – und über die Frage, ob Deutschland gelernt hat, konstruktiv mit Unternehmensinsolvenzen umzugehen.
„Insolvenz bedeutet nicht das Ende eines Unternehmens, sondern kann der Beginn einer Sanierung sein“, so Müller-Henneberg. Heute gehe es weniger um Bilanz-, sondern um Ergebnisprobleme – sinkende Aufträge und Gewinne. Die Krise sei keine Delle, sondern Ausdruck einer tiefgreifenden Transformation.
Dr. Alexander Sommer (Kullen, Müller, Zinser) bestätigt: „Die Lage ist spürbar angespannt, besonders im Handel, Handwerk und in der Gastronomie.“ Große Konzerne wie Daimler oder Bosch blieben stabil, doch ihr Personalabbau wirke weit in die Regionen hinein.
Simon Beier (Burger, Rosenbauer, Beier) erkennt in der Insolvenz auch eine Chance: „Sie kann den gesunden Kern eines Unternehmens freilegen – wenn man rechtzeitig handelt.“ Doch oft komme diese Einsicht zu spät. „Scheitern gilt hierzulande als Makel. In den USA ist es ein Neuanfang.“ Müller-Henneberg ergänzt: „Viele Krisen entstehen nicht aus Fehlverhalten, sondern aus externen Schocks. Die Insolvenzordnung bietet eigentlich Werkzeuge für den Neustart – wir
nutzen sie zu wenig.“
Christian Raiser (Thümmel Schütze) sieht die aktuelle Herausforderung weniger in steigenden Insolvenzquoten als im Strukturwandel. „Viele Mittelständler stecken in der Transformation zur Elektromobilität. Sie haben investiert, aber die Stückzahlen fehlen.“ Besonders die Bau- und Immobilienbranche leide unter den Zinsen. „Wenn Bosch Stellen abbaut, trifft das auch Handwerker, Zulieferer und den Immobilienmarkt.“
Markus Bettecken (Haver & Mailänder) ergänzt: „In der Peripherie der Konzerne stehen viele Betriebe mit leeren Auftragsbüchern da. Wir erleben keine Konjunkturdelle, sondern eine tiefere Krise.“ Bettecken kritisiert, das Arbeitsrecht sei ein Hindernis für schnelle Anpassungen: „Betriebsbedingte Kündigungen sind extrem kompliziert. Das blockiert notwendige Restrukturierungen.“
Ngoc Anh Heimbach (RSM Ebner Stolz) stimmt zu: „Die Kosten für Personalabbau sind enorm. Wir brauchen pragmatischere Verfahren.“ Politisch sei das heikel, räumt Bettecken ein. „Niemand will Entlassungen erleichtern. Aber wenn Krisenbewältigung an Bürokratie scheitert, verlieren wir an Wettbewerbsfähigkeit.“ Ein weiterer Engpass liegt bei der Finanzierung. „Banken agieren vorsichtiger, weil sie mit Fremdmitteln arbeiten und sich absichern müssen“, so Müller-Henneberg. „Basel-Vorgaben engen sie zusätzlich ein. Dadurch scheitern Sanierungen oft an der Finanzierung.“ Zustimmung von Sommer: „Banken sind durch Haftungsrisiken gelähmt.
Ich setze eher auf die Innovationskraft der Unternehmen selbst.“ Raiser wiederum erkennt etwas Bewegung: „Manche Banken versuchen wieder, Kunden zu halten, doch sie bleiben sehr restriktiv.“ Trotz aller Krisensymptome gibt es auch Chancen. „Wenn wir alte Strukturen hinterfragen, kann daraus Neues entstehen“, sagt Beier. Auch Heimbach denkt in eine ähnliche Richtung: „Das Insolvenzrecht bietet viele Instrumente, wir müssen sie nur mutiger nutzen.“ Müller-Henneberg: „Wir müssen aus der Arroganz heraus, alles besser zu können. Vielleicht braucht es eine harte Krise, um die Dinge zu versachlichen.“
Doch Sommer hält dagegen: „Ich glaube an die Innovationskraft der Unternehmen. Baden-Württemberg hat Know-how und Kreativität, das ist unsere Stärke.“ Eines wird sehr deutlich: Die Zeiten des bequemen „Weiter so“ sind vorbei. Deutschland steht unter Anpassungsdruck – rechtlich, ökonomisch und mental. „Wir brauchen weniger Verzagtheit und mehr Zuversicht“, nennt Bettecken als Fazit. Wirtschaft sei auch Psychologie.
Moderator Matthias Schiermeyer will abschließend einen positiven Ausblick vermitteln. Da lächelt Müller-Henneberg: „Vielleicht lernen wir gerade
wieder, die Ärmel hochzukrempeln.“